Studientag - Sprache als Schlüssel zur Integration

16. FEB 2016 Aktuelles

Es gibt nicht „den Flüchtling“, sondern viele unterschiedliche Menschen. Informationen über die unterschiedlichen Schicksale und die gegenwärtige Situation der Flüchtlinge an der Schule gewinnen, Hintergrundwissen über den Islam und die Konfliktfelder in Syrien erhalten – das war die Zielsetzung des Studientags für das Kollegium, Schüler- und Elternvertreter des Gymnasiums Nieder-Olm am 10.2.2016.

Die Veranstaltung bot ein Forum für Austausch, offene Gespräche und half so, Zusammenhänge besser zu verstehen.

(Foto: Khalil Amora; Svenja Enke und Judith Eckart von ELAN)

„Ich weiß nicht, ob wir es schaffen. Scheitern ist keine Alternative. Also packen wir es an“, so zitierte die Migrationsbeauftragte der Stadt Ingelheim, Fr. Dr. Gillebeert, ihren Oberbürgermeister. Ein Motto, das auch für das Gymnasium Nieder-Olm gilt. Dort sind bisher erst vier Kinder mit Flüchtlingsstatus in unterschiedlichen Klassen untergebracht, beispielhaft für die derzeitige Situation im Landkreis Mainz-Bingen. In den nächsten Tagen sollen weitere 20 Schülerinnen und Schüler im Schulzentrum Nieder-Olm erfasst werden. Mit welchen Lern- und Integrationsangeboten kann diesen Kindern begegnet werden – und wie ist die rechtliche Seite? Drängende Fragen, die der Studientag mit einem breit gefächerten Angebot klären sollte.

Flüchtlinge im Alltag: Heterogenität als zentrales Merkmal

Dominique Gillebeert schilderte eindrücklich ihre Erfahrungen in der Arbeit mit Flüchtlingen. Dabei legte sie Wert auf die unterschiedlichen Schicksale der Flüchtlinge und illustrierte das an drei Beispielen: dem alleinflüchtenden Minderjährigen, dem Mann, der mit einem Boot über das Mittelmeer gekommen ist, der Mutter aus Pakistan, die sehr lange auf ihre Anerkennung als Flüchtling gewartet hat und sich schließlich um den Nachzug ihrer Familie kümmern konnte. Daneben sprach Gillebeert auch von der großen Gruppe der jungen Männer zwischen 18 und 35 Jahren. Wichtig ist ihr der Blick nach vorne: Die Herkunft als Flüchtling sei nur ein Merkmal, andere Aspekte ebenso wichtig: Geschlecht, Alter, Ausbildung, Religion oder Behinderung: „Die es bis Deutschland geschafft haben, sind starke Menschen.“ Jeder von ihnen könne für sich selbst sorgen, Helfer könnten nur Türöffner sein.

Die Migrationsbeauftragte nannte den Umgang mit Traumatisierungen als ein spezifisches Merkmal ihrer Arbeit. Wichtig sei, den Menschen eine Perspektive zu geben und sie nicht in Depressionen abrutschen zu lassen. Oft müsse aber auch Euphorie gebremst werden: Viele der Flüchtenden seien dankbar für den ersehnten Frieden und würden am liebsten mit einem Übermaß an Energie ein neues Leben anfangen. Allein der behördliche Weg erfordere jedoch Geduld: Bestenfalls sechs Monate dauert der festgelegte Weg der Flüchtlinge von der Erstaufnahmeeinrichtung bis zur Klärung des Bleiberechtes in Einzelfallprüfung. Erst dann sind ärztliche Versorgung, Integrationskurse, Arbeitserlaubnis und finanzielle Zuwendungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gesichert.

Schulen als Integrationsstätten bieten sich aufgrund der relativ kleinen Klassenverbände an; eine Option, die sich bei der großen Gruppe der jungen Männer nicht anbietet. Weil aber die Anerkennung von Menschen als „Flüchtlinge“ so lange dauere, müssen die Schulen mit hoher Fluidität rechnen. Gerade nach Klärung des Status sind Umzüge aus privaten oder beruflichen Gründen oft unvermeidlich.

Komplexe Konstellationen und wenig Hoffnung auf Veränderung

Genau wie Dominique Gillebeert stellte Christian Saßmannshausen, Islamwissenschaftler aus Berlin und ehemaliger Schüler des Gymnasiums Nieder-Olm, die Unterschiedlichkeit der Flüchtlinge heraus. Vor allem das starke Stadt-Land-Gefälle in Syrien führe zu großen Unterschieden bei Bildung und religiöser Verwurzelung. Saßmannshausen schilderte Hintergründe zum sunnitisch-schiitischen Konflikt im Nahen Osten und dessen Bedeutung für den Bürgerkrieg in Syrien. Er rief auch die euphorische Phase des „Arabischen Frühlings“ von 2011 in Erinnerung, von der nichts geblieben sei. Vor allem die komplexe Konstellation der Konfliktparteien in Syrien, in der Region und die internationalen Verwicklungen stellte er anschaulich dar. Der Wissenschaftler von der FU Berlin machte deutlich, dass der Konflikt Europa noch lange beschäftigen und neue Fluchtbewegungen auslösen werde. Sein wenig hoffnungsvolles Fazit für die Region: „Es gibt viele schlechte Lösungen, aber keine guten.“

Dieses Statement bestätigte auch Khalil Amora, 2014 aus Syrien über Ägypten, Libyen,   das Mittelmeer in einem Boot, Italien und Österreich nach Deutschland geflohen. Er schilderte eindrucksvoll seine Beweggründe, seine Etappen und die kaum vorstellbaren Begleitumstände und Schicksale der Mitflüchtlinge. Er lebt seit einiger Zeit in Mainz und wartet – unterstützt von ELAN e.V. – auf seinen Bescheid im Asylverfahren. Über ELAN e.V. kann der Kontakt zu ihm und weiteren Asylsuchenden vermittelt werden, die in die Schulen kommen, um SchülerInnen und LehrerInnen Einblicke in das Leben von Flüchtlingen zu geben.

Sprachkompetenz als zentraler Teil der Lösung

Gute Lösungen braucht die Integration der Flüchtlinge in der Schule. Dabei stellt deren Heterogenität die Schule vor besondere Herausforderungen hinsichtlich sozialer Integration und Lernen in einer Gruppe. Zu diesem Schluss kam Stephanie Zinecker, die als Lehrkraft für „Deutsch als Fremdsprache“ speziell ausgebildet ist und den Unterricht der Kinder ohne Deutschkenntnisse in Nieder-Olm leitet. Zurzeit unterrichtet sie 2 Kurse für 8 bis 9 Schüler in jeweils 9 Wochenstunden. Den Rest der Zeit nehmen die Kinder am Regelunterricht teil. Diese schnelle Integration in die Klassen sei aber aufgrund der geringen Deutschkenntnisse nicht effektiv. Die Ausbildung von grammatikalischen Strukturen brauche Zeit. Insbesondere die Teilnahme an der gymnasialen Oberstufe setze vertiefende Kurse voraus.

Auch die Berichte der Klassenlehrer zeigten deutlich, dass die Flüchtlingskinder bisher nicht über die nötigen Deutschkenntnisse verfügen, um aktiv am Unterricht teilzunehmen. Für die neuankommenden Flüchtlingskinder wurden deshalb Deutschkurse mit erhöhter Wochenstundenzahl beantragt. In 20 Wochenstunden können je 10 Schüler schneller das Integrationsziel erreichen. Zwei Stunden täglich bleiben dann für den Regelunterricht. Die Bewilligung dafür steht noch aus.

In Hinblick auf die soziale Integration gab Schulsozialarbeiterin Christiane Sternjacob Anregungen – insbesondere für die Sensibilisierung der Schüler in den aufnehmenden Klassen und deren Fähigkeiten zum Perspektivwechsel.

Die Hintergrundinformationen und Erfahrungsberichte gaben den Teilnehmern des Studientages einen wertvollen Einblick in die komplexe Thematik. Und die Erkenntnis: Erst die Sprache ermöglicht Menschen, ihrem Schicksal eine Stimme zu geben.

von Susanne Thomas

(Foto: BRE)

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